Die Flaschen-sammlerin

Fast jeden Abend um die (fast) gleiche Zeit sehe ich sie in der S-Bahn: Eine kleine Frau. Sie wirkt jung, trotzdem hat sie eine leicht gekrümmte Haltung. Die Kleidung – gezeichnet vom Leben und den Umständen. In der rechten Hand eine große Tasche, die linke Hand ständig auf der Suche nach der einen kostbaren Ware: Leergut und Pfandflaschen. Überall in der Stadt gibt es sie. Teilweise richtig professionell ausgestattet mit Stöcken, Greifzangen, Plastikhandschuhen und Rolltaschen. Immer darauf bedacht, die „Flaschenbeute“ sicher nach Hause zu bringen. Bei jeder Begegnung mit einem dieser Flaschensammler ertappe ich mich dabei, wie ich vor Scham wegschaue – und mich dann sofort für mein eigenes Verhalten verurteile. Ich weiß nicht, wie ich auf diese Armut reagieren soll: Hinschauen? Wegschauen? Etwas Geld spenden? 

Eines Abends, als ich wieder die junge Frau in der S-Bahn treffe, erlaubt mir das Leben, sie als unbemerkte Zuschauerin bei ihrem Tun beobachten zu dürfen. Was ich in ihren Augen und ihrem Sein erleben darf, ist nichts von dem, was ich erwarte: Diese Frau strahlt Zufriedenheit aus. Und Glück. Und Ruhe. Bedächtig und voller Vertrauen geht sie von Abteil zu Abteil, von Menschengruppe zu Menschengruppe. Sie fragt nach leeren Flaschen, lächelt, kontrolliert die kleinen Abfalleimer neben den Sitzgruppen und geht bedächtig ihren Weg.

Schämt sie sich? Nein! Wirkt sie unglücklich? Nein! Hadert sie mit ihrer Tätigkeit? Nein!
Ihre Art kommt an: Meine Mitfahrer behandeln sie freundlich, sie erwidern ihr Lächeln und behandeln sie, ja – respektvoll. In diesem Moment wird diese junge Frau für mich zu einer tiefen Lehrmeisterin: Natürlich ist das WAS wir tun wichtig. Aber noch wichtiger ist das WIE: „Die Dinge sind nicht so, wie sie sind, sondern das, was wir daraus machen!“ Ich werde diese Woche ganz bewusst darauf achten,WIE ich durch mein Leben gehe, WIE ich meine Mitmenschen behandele und ja – auch mich selber.