Hilfe NICHT annehmen…

Seit einem Jahr sehe ich ihn immer wieder an den Haltestellen bei Stadtmitte: Ein junger Mann, zotteliger Bart, lange blonde Haare, dürr. Abgewetzte Kleidung, löcherige Schuhe. Manchmal sitzt er einfach da, an anderen Tagen brummt er unverständliche Worte in seinen Bart. Betrunken ist er nie. Er bleibt stets isoliert und verschlossen. Ich habe ihm den Namen „Pavel“ gegeben. Pavel lebt auf der Straße. Von Monat zu Monat wird er dünner. Wie er den Winter überlebt hat, ist mir ein Rätsel. Wenn ich ihn sehe, bekomme ich jedes Mal ein schlechtes Gewissen: „Irgendjemand muss ihm doch helfen! Lange schafft er das nicht mehr auf der Straße!“ Das sind die Gedanken, die mir durch den Kopf schießen, wenn ich ihn treffe. Gleichzeitig traue ich mich nicht, ihn anzusprechen. Auch dafür schäme ich mich. Wieso schaffe ich das nicht? Ich habe doch an mich selbst den Anspruch von Zivilcourage. Und dann zögere ich schon bei so einem Schritt? Ich fühle mich erbärmlich…⠀⠀
Schließlich fasse ich mir ein Herz und versuche, zumindest eine Anlaufstelle herauszufinden, die Pavel helfen könnte. Ein Streetworker oder etwas Ähnliches…⠀⠀
⠀⠀
Gesagt getan, ich werde schnell fündig. Am Telefon spreche ich mit einer freundlichen Frau. Als ich ihr das Aussehen von „meinem Pavel“ beschreibe, antwortet sie:⠀
„ Ja, wir kennen Pavel schon seit einiger Zeit. Wir haben ihn auch schon wiederholt angesprochen und ihm Hilfe angeboten, aber er reagiert einfach nicht auf unsere Angebote. Wir können ihn ja nicht zwingen, mitzukommen. Er lässt sich einfach nicht helfen.“⠀⠀
⠀⠀
Ich lege auf. Ratlos. Ich bin froh, dass ich angerufen habe. Ich fühle mich irgendwie erleichtert. Als ob ich aus einer Verpflichtung herausgelöst worden wäre. Dabei habe ich ja überhaupt nichts erreicht. Wie leicht sich das schlechte Gewissen beruhigen lässt…⠀
Es ist keine Selbstverständlichkeit, dass Menschen Hilfe annehmen. Warum Pavel so handelt, wie er handelt, weiß ich nicht. Seit zwei Wochen habe ich ihn nicht mehr gesehen. Ob er noch lebt? Ich weiß es nicht…